30. März 2014
Die erste WM, an die ich mich erinnere, ist die WM 1974. Diese Weltmeisterschaft begann für mich mit einer televisionären Irritation. Wir wohnten in einer Reihenhaussiedlung in Flensburg. Die Eltern meiner Freundin Julia hatten sich den ersten Farbfernseher der Siedlung angeschafft – eine Sensation! In Schaufenstern hatte ich schon Farbfernseher gesehen, aber zu Hause hatten wir noch ein großes Schwarz-Weiß-Gerät mit fünf Programmtasten (direkt am Gerät, ohne Fernbedienung), von denen nur die ersten drei Tasten mit Sendern belegt waren. Mehr gab es nicht! Ich war schon damals technikbegeistert und versprach mir sehr viel vom Farbfernsehen. Umso größer war meine Enttäuschung über das Gerät der Nachbarsfamilie: Es zeigte nicht die echten, wahren Farben, sondern einfach irgendwelche! Während meiner ersten Begegnung mit dem Farbfernseher lief nämlich gerade ein WM-Spiel auf dem Bildschirm. Zu meinem Entsetzen war das Fußballfeld aber nicht rot, sondern grün! Ich reklamierte diesen Umstand heftig und war von niemandem zu überzeugen, dass Fußballfelder in Wahrheit wirklich grün waren. Meine Eltern spielten in den siebziger Jahren täglich stundenlang Tennis. Ich wuchs eigentlich im Tennisclub Mürwik auf. Dort gab es rote Aschplätze. Warum sollten Fußballfelder also grün sein? Die WM-Spiele, die ich auf unserem Schwarz-Weißfernseher mit meinem Vater sah, wurden in meinem Gehirn also auf roten Fußballfeldern gespielt. Ich glaube, so richtig begann ich mich mit den grünen Feldern erst anzufreunden, als ich endlich – wie alle meine Grundschulfreunde zuvor – ein Buch bekam, das es nur bei EDUSCHO zu kaufen gab: Franz Beckenbauer – WM 74. Zu diesem Zeitpunkt war die WM schon gelaufen und Deutschland hatte in Deutschland gewonnen. Ein Wahnsinn. Jeden Tag sah ich mir die farbigen Seiten dieses Buches an und las die Berichte vom Trainingslager in Malente. Das Buch hat sich für immer komplett abgespeichert bei mir. Helmut Schön küsst den Pokal, Sparwasser schießt das 1:0 gegen die BRD, Paul Breitners Lockenkopf usw.
Kurz nach dem WM-Sieg der deutschen Mannschaft erinnere ich mich an eine Szene im Tennisclub. Ich jubelte wohl, doch ein Freund und Tennispartner meiner Eltern wollte mich aufziehen: „Wir haben gewonnen? Nein, wir haben 1954 gewonnen, aber jetzt?“ Auf diese Weise erfuhr ich, dass wir vor vielen tausend Jahren schon einmal Weltmeister waren – in einer Zeit, wo es fast noch gar keine Fernsehapparate gab. Witzig, dass 1954 damals an 1974 näher dran war, als 2014...
Hier in Rio werden anlässlich der WM die Verkaufszahlen für Fernsehgeräte in die Höhe schnellen, wie wohl fast überall sonst auf der Welt. Heute sind es riesige (seit neuestem gebogene) Flachbildschirme, schärfer als das wahre Leben in 4K oder 3D oder alles zusammen. Das Fernseherlebnis ist längst dem originalen Erlebnis im Fußballstadion überlegen, wo ich zum Beispiel immer auf die Wiederholungen im Zeitraffer aus 8 verschiedenen Perspektiven vergeblich warte. Vielleicht ist das ein Trost für alle, die wie ich bisher keine Karten für ein WM-Spiel bekommen habe (ich kenne persönlich nur zwei Menschen, die Karten bekommen haben).
Die Wahrnehmung der WM 2014 in Brasilien wird besonders von der Abbildung des Landes und der Spiele im Fernsehen abhängen. Schon deshalb, weil viele Zuschauer sich kein eigenes Bild über Brasilien machen können, da es einfach zu weit entfernt ist.
Heute ist Sonntag – ich habe frei und sitze mit meiner Familie in unserem Club (kein Tennisclub, obwohl es hier auch rote Tennisplätze gibt). Ein herrlicher Herbsttag bei 27 Grad und von Krise subjektiv keine Spur. Aber eben auch eine Realität genau wie der Bericht auf Spiegel-Online von heute: „Militär übernimmt Kontrolle in Favelas“.
Die Besucher, die mit offenen Augen zum ersten Mal durch Rio laufen, werden überrascht sein, wie sehr das eigene Bild von Rio de Janeiro vom Fernseh- und SPON-Image abweichen kann, in etwas so wie rote von grünen Fußballfeldern.
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