Waren da wirklich Menschen als Bäume verkleidet? Saßen da wirklich gelangweilte Indios in Kanu-Attrappen? Das alles in gleißendem Tageslicht und in einem halbleeren Stadion? Sollte das wirklich die Eröffnungsfeier der Fußballweltmeisterschaft 2014 gewesen sein? Wer das wie ich ziemlich bescheuert fand, sollte sich, falls die Erinnerung daran verblasst ist, auf Youtube Szenen der Eröffnungszeremonie der 2006 in Deutschland ausgetragenen WM ansehen. Ich habe dies getan und verkneife mir deshalb besser weitere Kritik an den linkischen Aufführungen rund um eine nervöse LED-Kugel und schlucke auch den Spott herunter, den der gemeinsame und doch in jeder Hinsicht asynchrone Auftritt von Claudia Leitte und Jennifer Lopez in mir hat aufkommen lassen.
Verstörend fand ich dagegen die Sprachlosigkeit dieser WM-Eröffnung. Wie kann es sein, dass Präsidentin Dilma diese Spiele nicht gebührend eröffnet und auch die vielen Gäste in ihrem Land nicht so begrüßt, wie es sich gehört? Mangelnde Etikette waren hier sicherlich nicht der Grund, sondern vielmehr die sehr begründete Angst davor, im Stadion und vor Milliarden Fernsehzuschauern in aller Welt ausgebuht zu werden. Der Verzicht auf die Eröffnung einer solchen Großveranstaltung im eigenen Land ist aber kein gutes Zeichen. Es zeigt mangelnde Bereitschaft, Geschick und Mut, sich den wütenden Massen zu stellen. Stattdessen wird die fühlbare Störung dieser Spiele sogar bei der Eröffnung ignoriert und gerade dadurch besonders spürbar – vielleicht sogar überhöht. Es bleibt das Gefühl einer ungeklärten Situation – sehr schlecht! Und wenn nicht Dilma, wo war Pele? Konnte wirklich niemand gefunden werden, der ein paar Worte sprechen konnte?
Vielleicht brauchen die Massen ja keine Worte mehr. Eröffnungspräsentationen und Musik. Schnitt. Die Seleção kommt an und macht sich warm. Schnitt. Anpfiff. Nur noch bunte Bilder...
Nach diesem Debakel brauchte es einige Zeit, meine Frau dazu zu überreden, die Wohnung zu verlassen, um mit mir das Eröffnungsspiel am Strandkiosk in Leme anzusehen.
Etwas zu spät machten wir uns auf den Weg an den Strand von Copacabana. Viele Menschen in gelben Trikots waren mit uns in gleicher Richtung unterwegs. Die Atmosphäre auf dem Weg zum Strand war gespenstisch. Leere Straßen (!!!) und verrammelte Geschäfte, die sonst immer geöffnet sind. Dazu der Lärm kreisender Hubschrauber über uns. Explodierendes Feuerwerk mit dem hier so beliebten Sound von Schüssen. Am Strand dann ein Massenauflauf, wie sonst nur zu Carnaval. Martialisch aussehende schwarze Polizeiwagen auf dem Mittelstreifen der Av. Atlântica. Vor dem Fifa Fan Fest gibt es eine Schlange von einem Kilometer. Dann, auf der Höhe vom Copacabana Palace, plötzlich eine Demonstration. In der Mitte der Straße fallen die ansonsten eher unambitioniert wirkenden Demonstranten vor allem dadurch auf, dass sie keine gelben Trikots tragen. Die Menschen mit den gelben Trikots dagegen sehen die Demonstranten offenbar als Teil des WM-Gesamtpakets und somit als weitere Touristenattraktion an, denn sie fotografieren und filmen sprachlos die ebenfalls sprachlos vorbeiziehenden Demonstranten. Einziger Aufreger sind zwei Frauen, die vor uns im Gesicht verschleiert aber mit nackten Busen den Demonstrationszug flankieren. Später werden wir sie im Fernsehen wiedersehen. In den Globonachrichten am Abend werden sie gezeigt - die Brustwarzen verpixelt! Unglaublich, da hier im Fernsehen fast nie etwas verpixelt wird – sogar gefasste Kriminelle oder Beschuldigte werde klar gesendet. Woher kommt die Angst der Brasilianer vor weiblichen Brustwarzen?
Auf einmal ist es vorbei mit der Sprachlosigkeit. Die Demonstranten jubeln laut. Hat etwa ein Brasilianer schon das erste Tor geschossen? Ja, aber wie sich wenig später für uns herausstellt, für das gegnerische kroatische Team.
Auf Höhe des Fifa-Fan-Fests sind dann so viele Polizisten positioniert, wie Fans. Unglaublich. Wir drängeln uns durch dieses Getümmel weiter Richtung Leme und ich denke: Das ist nicht schön.
In Leme ist es plötzlich vergleichsweise menschenleer und wir finden eine kleine Gruppe von Deutschen, die neben einer Hundertschaft von Polizisten am Kiosk „TOR“ das Spiel verfolgt. Pünktlich mit unserem Eintreffen erzielt Neymar das Ausgleichstor für Brasilien. In idyllischer Ruhe verfolgen wir das Spiel schön am Strand, tausend Meter von den tumultigen Massen entfernt. Einziges Ärgernis hier ist die Schauspieleinlage des brasilianischen Spielers Fred, die zu einem ungerechten Elfmeter führt.
Nach dem für Brasilien sehr glücklichen Ende des Spiels werden wir von einem argentinischen Fernsehteam entdeckt. Wir sollen als Kulisse einer Liveschalte dienen und im Hintergrund BRASIL BRASIL skandieren. Was mögen wohl die vielen Polizisten denken, die um den Kiosk herumstehend zunächst das Spiel verfolgt haben und nun die Gringos für Brasilien jubeln sehen? Sie sind sprachlos...
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Martin Kühn (Freitag, 13 Juni 2014 22:03)
Sehr interessant, aus erster Hand einen Eindruck vom Geschehen in Rio zu bekommen!
Robert (Freitag, 13 Juni 2014 22:33)
Vielen Dank und viele Grüße nach Bremen!