Mein Bruder Thomas Kühn hat für die ganze Familie das Land Brasilien entdeckt. Zur WM war er natürlich in Rio. Er lebt mit seiner Familie in Bremen. Heute zieht er in seinem Gastblog für www.wmrio.de eine erste Bilanz der Spiele.
Die große Party ist vorbei. Bleibt die Frage, was hat die WM dem Gastgeber gebracht?
Viel wird über das ökonomische Kosten-Nutzen-Verhältnis diskutiert. In diesem Zusammenhang geht es insbesondere um ausufernde Ausgaben, Korruption und den teuren (Um-)Bau von Stadien. Um Versprechungen und Budgets, die nicht gehalten wurden. Um den Bildungs- und Gesundheitsbereich, der dringend Investments mindestens in der Größenordnung der Ausgaben benötigt, die in den letzten Jahren für die Vorbereitung der Infrastruktur der WM nach FIFA-Richtlinien geflossen sind.
Derartige Diskussionen sind sicher sinnvoll und notwendig. Aber die Bedeutung einer WM darf nicht nur auf diesen ökonomischen Aspekt reduziert werden. Als Sozialpsychologe beschäftige ich mich damit, welche Bilder sich die Bevölkerung von der WM macht und wie diese Bilder das eigenen Handeln und damit letztendlich den Alltag in Brasilien beeinflussen
Anderthalb Jahre vor der WM, Ende 2012, habe ich zusammen mit Studierenden der Politikwissenschaften der brasilianischen Universidade Federal Fluminense (UFF) in Niterói eine Befragung durchgeführt, wie Brasilianer aus verschiedenen sozialen Schichten die aktuelle Lage im Land beurteilen. Immer wieder stießen wir auf eine Kernaussage :„Imagina na copa!“ - „Stell’ Dir bloß mal vor, wie das zu Zeiten der WM sein soll...“ Dieser Satz wurde immer dann genannt, wenn Probleme des Alltags in Rio angesprochen wurden, wie z.B. Verkehrsstaus oder Überfälle und Gewalt. In diesem Satz spiegelte sich erstens eine große Wut und ein großes Unbehagen gegenüber dem Status quo der Gesellschaft wider und zweitens die große Angst davor, als Gastgeber der WM schamvoll vor Augen der gesamten Welt zu versagen.
Ein paar Monate später kam es auf der Grundlage dieser spannungsreichen Gefühlsgemengelage zur Explosion: Während des Confederation-Cups im Juni 2013 gingen Millionen Brasilianer auf die Straße und demonstrierten. Dabei ging es nicht allein um den Protest gegen steigende Preise für den Busverkehr, sondern vor allem darum, ein Zeichen zu setzen, dass man es leid ist, sich alles gefallen zu lassen und bloß Spielball einer auf partikulare Interessen einer kleinen Elite ausgerichteten Politik zu sein. Insbesondere junge Studierende gingen auf der Straße und lernten sich und andere Brasilianer von einer ganz neuen Seite kennen: Als politisch interessierte Brasilianer, die um Partizipation ringen und sich nicht mit der Rolle als politisch machtloser Konsument abspeisen lassen wollten.
Ich selbst habe diese Proteste nur aus der Ferne beobachten können. Erst jetzt, zum Ende der WM bin ich zurück nach Brasilien gekommen. Ich habe die Chance genutzt, um eine neue Befragungswelle zu starten. In den letzten Tagen bin ich quer durch Rio de Janeiro gereist, von Glória bis Sulacap, von Curicica bis Copacabana, vom Barra bis zum Centro. Ich habe mit Brasilianern aus unterschiedlichen sozialen Lagen Interviews geführt, von der Friseurin bis zum Arzt. Besonderen Wert habe ich darauf gelegt, mehrere Studierende zu befragen, die im letzten Jahr an den Demonstrationen aktiv mitgewirkt haben. In den Interviews ging es darum, wie die Brasilianer auf die abgelaufene WM zurück blicken und wie sie im Nachhinein die Demonstrationen bewerten.
Natürlich bedarf es noch einiger Zeit, um die Interviews gründlich auszuwerten. Aber bereits jetzt kann ich sagen, dass ich viel gelernt habe, wie sich Brasilien verändert hat – und dies nicht zuletzt durch die Erfahrungen während der WM und in Verbindung mit der WM als Imaginationsfigur.
Auf den ersten Blick sind die Proteste 2013 gescheitert. Kurzfristig wurden zwar die Busfahrpreise nicht erhöht, und Präsidentin Dilma versprach ein Mehr-Punkte-Programm. An dieses Programm erinnert sich aber heute kaum noch einer, noch weniger, was daraus geworden ist. Ein paar Monate nach den Protesten wurden die Busfahrpreise dann doch erhöht, ohne dass es einen groß angelegten Widerstand gegeben hätte. Während der WM 2014 gab es nur noch vereinzelt Proteste, die kaum öffentlich wahrgenommen wurden.
Aber bei meinen Gesprächen mit den Brasilianern über die Proteste im Jahr 2014 konnte ich feststellen, dass dieses Bild des Scheiterns trügt. Nicht nur die aktiven Protestanten, sondern auch viele derjenigen die nicht daran teilgenommen haben, stehen den Protesten nach wie vor sehr positiv gegenüber. Zum Teil sind sie geradezu stolz darauf.
Die Proteste sind fest in der Erinnerung verankert und spielen eine große Rolle, wenn es darum geht, mir als Fremdem zu erklären, was Brasilien und Brasilianer ausmacht. Die Proteste haben das Bild von Brasilien gewandelt: Sie haben gezeigt, dass Momente denkbar sind, in denen die Bevölkerung sich erhebt und sich nicht mehr alles gefallen lässt. Sie haben das Selbstbild der Brasilianer erweitert und prägen das Selbstverständnis einer Generation von Studierenden. Sie bilden damit eine Ressource für die Zukunft des Landes, die nicht unterschätzt werden darf.
Aber warum gab es dann 2014 nicht erneut Proteste? Auch dazu habe ich in meinen Interviews spannende Antworten bekommen. Selbst viele von denen, die 2013 an den Protesten teilgenommen haben und eigentlich kritisch der WM gegenüber standen, sehen die WM 2014 in einem ganz anderen Licht als den Confed-Cup 2013.
Unabhängig von der Frage der Sinnhaftigkeit eines Wettstreits von Nationen haben sie sich mitreißen lassen von einer Stimmung des Miteinander. Von der Freude und der Anerkennung derjenigen, die zum ersten Mal nach Brasilien gekommen sind.
Viele der Befragten sind froh, dass während der WM nicht die soziale Lage im Land durch öffentlichkeitswirksame Proteste im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, sondern, dass Brasilien Gastfreundschaft gezeigt hat. In den Protesten ging es 2013 eben nicht vorrangig um die WM an sich, sondern darum, für ein (noch) besseres Brasilien zu kämpfen. Oder, um es weniger nationalbezogen auszudrücken, darum Vorreiter zu sein, in gegenwärtigen spätmodernen Gesellschaften um neue Möglichkeiten der Partizipation am öffentlichen Leben zu ringen.
Das befürchtete Chaos während der WM blieb aus. Keine Verkehrsstaus und keine Überfälle prägten das Bild der WM in Brasilien, sondern spannende Spiele auf hohem Niveau, überraschende Außenseiter wie Costa Rica und eine in der Höhe sensationell hohe Niederlage ausgerechnet gegen Deutschland. Dass das Chaos ausblieb, hat viele Brasilianer ebenso überrascht wie die Beobachtung, wie positiv die WM, die ganze Organisation und ihr Land von den Touristen wahrgenommen und eingeschätzt wurden. Erneut wurde dadurch das Bild von Brasilien ins Wanken gebracht. Viele Brasilianer geben in den Interviews zu, dass sie erstaunt waren, dass es ihrem Land gelungen ist, ein derart großes Mega-Event zu organisieren.
In diesem Zusammenhang muss die hohe Niederlage gegen Deutschland gar nicht unbedingt eine „traumatisierende“ Wirkung haben, wie es zum Teil in der lokalen Presse diskutiert wurde. Im Gegenteil, Brasilien hat erlebt, dass sie nicht der bedrohliche, alles dominierende Gigant sein müssen, um ernst genommen zu werden. Die Anerkennung für die WM war nicht abhängig von einer übermächtigen „seleção“, sondern von der Fähigkeit, ein ausgezeichneter sympathischer Gastgeber zu sein. Eine ähnliche Erfahrung wurde in Deutschland in Verbindung mit der Gastgeberrolle 2006 gemacht. In Deutschland hatte dies erhebliche Folgen auf das eigene Selbstbild und den Umgang mit der eigenen nationalen Identität, wie nicht zuletzt die SPIEGEL-Titelgeschichte nach dem WM-Sieg verdeutlicht hat. Ob sich eine ähnliche Entwicklung in Brasilien zeigen wird, bleibt abzuwarten.
Um abschließend noch einmal auf die ökonomische Diskussion um die Kosten und Opportunitätskosten der WM zu sprechen zu kommen und kein zu einseitig optimistisches Bild zu zeichnen, darf eine wichtige Beobachtung aus meinen Interviews aber nicht verschwiegen werden:
Fast alle Befragten beklagen die Verschwendung von Ausgaben im Vorfeld der WM ebenso wie die mangelnde Einhaltung von Versprechungen durch Politiker nach den Protestaktionen. Es wird als intransparent angesehen, inwiefern politische Kräfte durch die Hintertür auf Protestbewegungen und die Vergabe öffentlicher Aufträge bei der WM Einfluss genommen haben. Es herrscht keine Klarheit, wie die Elite und führende Unternehmen von der WM profitiert haben. Es gibt ein weit verbreitetes Misstrauen darüber, wie bestimmte Sichtweisen über die WM und ihren Erfolg über Massenmedien verbreitet und für politische Interessen nutzbar gemacht werden sollen. Viele Befragte ziehen eine Verbindung zu anstehenden Wahlen und drücken ihr Unbehagen aus, dass eigentlich keine „gute“ Wahl möglich ist, weil allen Politikern misstraut wird. Einige flüchten in Humor oder Zynismus, andere sehen in der Folge sogar Gewalt bei Protestaktionen als legitime Reaktion.
Kaum einer der Befragten zeichnet ein eindeutig positives Bild der WM, bei vielen wird stattdessen eine ambivalente Gzundhaltung deutlich: Die eigene emotionale Beteiligung am Geschehen der WM und insbesondere damit verbundene Momente der Freude, Spannung und Begeisterung werden durchaus selbstkritisch gesehen. Zu groß ist das Unbehagen, dass im Vorfeld der WM herrschte und die nach wie vor kritische Sicht auf die Organisation einer WM, die als fremdbestimmt erlebt wurde und deren Grundzüge nicht auf einem öffentlichen Diskurs beruhten.
Immer wieder wird in den Interviews Unbehagen deutlich, einer intransparenten Macht-Elite ausgeliefert zu sein und auch nicht den Informationen in den Medien vollends trauen zu können. Ein Grundgefühl, das letztendlich die Demokratie als Status quo in Brasilien in Frage stellt.
Insbesondere diejenigen, die auch in diesem Jahr an Demonstrationen teilgenommen haben, beklagen den rigiden Umgang, mit der die Militärpolizei in diesem Jahr jegliche öffentliche Kundgebungen im Keim habe ersticken wollen und weisen auf fragwürdige Verhaftungswellen am Ende der WM und damit verbundene Bedrohungen der Ausdrucksfreiheit im Land hin.
Die WM ist vorbei. Sie wird von den Brasilianern nicht glorifiziert, sondern auch im Nachhinein durchaus kritisch betrachtet. Sie könnte in ihren Effekten aber die Grundlage für ein neues Selbstbewusstsein bieten, einen reflexiven Diskurs über die Bedeutung von Brasilianität und Nationalität in Zeiten der Globalisierung fördern sowie die Bereitschaft zur Partizipation am öffentlichen Leben stärken. Als Imaginationsfigur wird die WM noch lange bestehen bleiben und in nationale Erzählungen, was Brasilien ausmacht, verwoben werden. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Sicht auf die WM im Nachhinein in Brasilien weiter entwickeln wird.
Kommentar schreiben